Das schwebend Vertikale des Objekts mit eleganter Art Nouveau-Drehung zum Boden hin ist eine denkbare Lesart von vielen: Die Skulptur amaru von Hartmut Landauer lässt sich variantenreich stellen, hängen oder legen, erinnert an Gefährt, Behältnis, Apparat, Maschine, Roboter, Trophäe, Chimäre, Insekt. In präkolumbianischen Kosmovisionen ist Amaru ein Mittler zwischen dem Himmel, einer realen äußeren und einer tiefinneren Welt, der Erdmutter und somit auch zwischen den Elementen Luft, Wasser und Erde. Hinweise auf ausrangierte fragmentierte Alltagsgegenstände, Zerstörung und Material-Neuinterpretation spiegeln Landauers Interesse an Metamorphosen, seine Materialien durchlaufen sozusagen Stadien der Zerstörung, um schließlich als transmutierte Wesen, vom Urmaterial emanzipiert, in Existenz zu treten. Basismaterial der Bildobjekte des Künstlers sind Plattencover, die zerschnitten und zu neuen Strukturen und visuellen Rhythmen collagiert werden. Für die ›Sound‹ Ausstellung der Mercedes-Benz Art Collection hat Hartmut Landauer 2019 einen Wandentwurf aus Details von Plattencovern konzipiert und ein Stück komponiert, für welches die Teile der Skulptur amaru als Instrumente, Klanggeber, Resonanzkörper Geräuscherzeuger dienten. Gepresst auf Platte können nun die Besucher im Raum die Töne und Klänge hören, die der Künstler schon bei der Konstruktion des abstrakten Fabelwesens amaru als unsichtbare Soundspur mitgedacht hat. »Ich habe mehrere Instrumente gebaut aus nachgebauten Teilen der Skulptur, denen der Komponist und Klangkünstler Daniel Kartmann Obertöne entlocken konnte! Wir waren überrascht von der Vielfalt der Klangmaterialien – Perkussives, Streicher, archaisch aussehende Blasinstrumente usw. –, die alle in der Skulptur stecken. Mit einem Frequenzmesser fanden wir sogar einige echt existierende Töne: B7, ein As, ein E an den Röhrensegmenten.« Entstanden sind vier Klangimprovisationen, gepresst auf einer 12 Zoll-Platte in orangefarbenem Vinyl mit Siebdruckcover in Hunderterauflage. Für Daniel Kartmann war die Klangrecherche an der Originalskulptur besonders wichtig und aufschlussreich. Maße und Proportionen der Skulptur beeinflussten auch minimalistische und konkrete Überlegungen Kartmanns für die Einspiel-Sessions. Das Ausgangsmaterial und entstandene Klänge wurden nicht nachträglich verfremdet, kein in der Skulptur verwendeter Werkstoff wurde ausgeklammert. Einziger erlaubter Kunstgriff war der Einsatz einer Loop-Station. So konnte Kartmann während der live eingespielten Improvisationen die Klänge in Schichten übereinanderlegen und seine kompositorische Grundidee der immer wiederkehrenden Schleife verwirklichen. Die verborgene ›Musik‹ der Skulptur entstand durch eine Art endoskopisches Aushorchen ihres Innenlebens. Die entstandenen Klänge sind ›befreite‹ Töne, universelle Klänge, hörbar gemacht durch die Freiheitlichkeit künstlerischer Idee. Die vier Kompositionen vereinen psychedelisch-symphonisch und perkussiv vibrierenden Naturklang mit Jazzreminiszenzen.
Renate Wiehager