Yuken Teruya

›Das Große und das Kleine‹

von Yuken Teruya

Yuken Teruya, Notice-Forest Louis Vuitton, 2019. Courtesy Yuken Teruya und Dorothée Nilsson Gallery
Foto: Hans-Georg Gaul, Berlin.

In einer Videoserie, die in Kollaboration mit der Künstlerin Linda Havenstein entstanden ist, erscheint in Großeinstellung ein Gesicht, das schweigend in die Kamera schaut. Minimale Mimik und emotionale Bewegung zeichnen sich in dem Gesicht ab, der porträtierte Mensch scheint über etwas nachzudenken. Nach einer Weile, je nach Person länger oder kürzer, wird die Stille gebrochen und die Person sagt »I’m sorry«. Fade-out. Die nächste Person erscheint, diesmal anderes Gender, andere Hautfarbe, und auch diese Person scheint betroffen nachzudenken, um dann zu sagen »I’m sorry«.

Auch ich bin zu sehen, auch ich entschuldige mich. Für all das Unrecht, was qua meiner Nationalität zu meiner Geschichte gehört, für all die Gewalt, die ich nicht gestoppt habe. Eine Entschuldigung, die all jenen Menschen gilt, die auf eine Entschuldigung warten. Wenn ein Staat für die Menschen seiner Staatsbürgerschaft einstehen soll, dann kann im Umkehrschluss vielleicht auch ein:e Staatsbürger:in anstelle der Regierung eine Entschuldigung aussprechen?

Die Serie heißt The Apology und beschäftigt sich mit dem Verhältnis von individueller Verantwortung und erweiterten gesellschaftlichen Zusammenhängen. Sie fragt nach der Position des Einzelnen im Größeren und den Handlungsoptionen, die jede Person im Angesicht und in Kenntnis der Ereignisse um sich herum hat.

Dieses Spannungsverhältnis von Individuum vs. übermächtig wirkende Gruppe ist etwas, was ich auch in anderen Werken thematisiere. In der Notice-Forest-Serie stehen sich zwei scheinbare Gegensätze gegenüber. Die Papiertüte, ein Massenprodukt, welches alle Bequemlichkeit der Berechenbarkeit, Vergleichbarkeit bis hin zur Eigenschaftslosigkeit mit sich bringt, der Geschwindigkeit, in der sie benutzt und wieder aus dem Bewusstsein gebracht werden kann, und eine kalkulierte Vergänglichkeit ihrer Existenz. Die Tüte verneint eine Verantwortlichkeit der Konsumierenden, sie beruhigt und lullt ein in ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit. Sie flüstert: »Nimm mich nicht wahr, ich bin niemand, ich habe keinen Wert.«

Der Baum allerdings, der sich in der Tüte auftut, bringt den Anspruch und den Willen der Existenz mit sich, er ist da, obwohl er gar nicht da sein dürfte. Nicht nur ist er ein sehr konkreter Baum, modelliert nach individuellen Gewächsen aus den urbanen Räumen der globalen Metropolen, er vernichtet auch die vermeintliche Austauschbarkeit der Tüte, er invertiert die Produktions- und Lebensläufe des Massenprodukts.

Durch seine Existenz unterbricht er den vorbestimmten Lebenskreislauf der Wegwerfware, er verweist nicht nur auf den Baum, der am Anfang der Tüte stand, sondern verlängert durch seine Existenz auch ihr Leben im Jetzt, zugleich wird ihr Ende ein anderes sein, als es vorbestimmt war. Er interveniert, er erzwingt Aufmerksamkeit, Neuevaluierung und Bedacht.

Wenn es etwas gibt, was ich mit diesem Werk zu Verstehen bringen (notice) möchte, dann ist es, dass die Tüte in Wahrheit nie eigenschafts- oder wertlos war, dass sie schon immer ein lebendiger Baum gewesen ist, und dass die scheinbare Leichtigkeit, die mit der Form der Massenproduktion und -distribution erreicht wird, schon immer trügerisch war. Was Hannah Arendt in der Mitte des 20. Jahrhundert für politische Zusammenhänge formuliert, überträgt sich am Anfang des 21. Jahrhundert und im Angesicht der Klimakrise auf eine vielschichtige Gemengelage, in der Konsumierende die Handlungstragenden sind.

Wir waren nie freigesprochen von der Verantwortlichkeit für unser Handeln, auch wenn die globalen Produktionsstrukturen und Konsumkulturen dazu einladen. Wir hatten nie das Recht, nicht zu bedenken was wir tun. Der kleine verletzliche Papierbaum kapert so das Narrativ von der modernen und bequemen Massenproduktion, des passiven Konsumierenden und der Annahme, dass ein Objekt wertlos ist, wenn die Einzelnen es kurzfristig und kostenfrei erhalten. Denn die vermeintliche kosten- und eigenschaftslose Massenproduktionstüte kommt jeden Menschen im Jetzt und in der Zukunft teuer zu stehen.

Text: Yuken Teruya

Yuken Teruya, Notice-Forest Louis Vuitton, 2019. Courtesy Yuken Teruya und Dorothée Nilsson Gallery
Foto: Hans-Georg Gaul, Berlin.
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