Blickt man heute auf die Fotografien von Robert Mapplethorpe fällt auf, wie diszipliniert und zugleich intim das Werk eines der umstrittensten Künstler des vergangenen Jahrhunderts eigentlich ist. Der klassizistische Impuls und die Idealisierung der Physis offenbaren in seinen Bildern einen Humanismus, der den menschlichen Körper unabhängig von Geschlecht oder Rasse zu plastischer Perfektion bringen will. Unbestritten ist, dass Mapplethorpe die Fotografie auf das Niveau der Malerei und Bildhauerei gehoben hat. Vor ihm spielte das Medium in der von Kunsthistorikern und Museen definierten Hierarchie der Disziplinen stets eine untergeordnete Rolle – mehr Dokument als eigenständiges Kunstwerk. Tunnel, 1983, blickt in einen Gang aus Vulkangestein. Durch ihn erreicht man in der antiken Stadt Cumae in Süditalien die Grotte der Sibylle, die von Dante und Michelangelo beschrieben und dargestellt wurde. Dieser ›Eingang zur Unterwelt‹ mag Mapplethorpe an den Weg erinnert haben, den sein eigenes Leben nahm. Das Bild entstand während eines Aufenthalts in Neapel zur Vorbereitung einer Ausstellung bei Lucio d’Amelio. Komponiert wie die Nahaufnahme eines menschlichen Modells, gleicht Tunnel einer Körperöffnung.