Tanz auf dem Vulkan – Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise
Die gesteigerte Präsenz des bewegten Bildes in der Berichterstattung – seit den 1980er-Jahren durch Videokameras, Fernsehen und seit den 2000er-Jahren in Kombination mit einer allgemeinen Livestream-Bereitschaft der Gesellschaft durch Smartphones via Internet – hat Wahrnehmung und Wirkungsweisen der Fotografie auch durch Algorithmen und Bilddatenbanken, in denen Bilder global in unterschiedlichsten Kontexten zirkulieren, verändert. Prozesse, die ein Umdenken erfordern, »das adäquat auf die komplexen soziotechnischen Dynamiken und Praktiken reagiert, die ›Bilder‹ hervorbringen und bewegen«.[1] Im Kontext dieser medialen und technischen Entwicklungen globaler Bildwelten, die ein visuelles, sich unentwegt wandelndes Gedächtnis konstituieren, stehen Arbeiten wie Clément Cogitores Les Indes galantes, in denen Dokumentation und Erleben durch konstantes Aufzeichnen mit dem eigenen Smartphone in ›real time‹ zusammenfallen, gefilmt und beobachtet wiederum von anderen – multiple Blickstrukturen. Eine verstärkte Demokratisierung der Sichtbarkeit im virtuellen Raum steht den fortbestehenden gesellschaftlichen Mechanismen gegenüber, die reale Orte und Institutionen der Kunst Teilen der Gesellschaft vorenthalten und jene systematisch separieren.
»Dokumentationen bauen immer auf einer organisierten Realität, auf einer fiktionalisierten Realität.«[2] (Clément Cogitore, 2017)
Die künstlerische Praxis des französischen Filmemachers, Videokünstlers und Fotografen Clément Cogitore lässt sich im Grenzbereich von Kino und zeitgenössischer Kunst verorten. Tradierte Unterscheidungen, welche die kinematische Inszenierung im Widerspruch zu einer ›wahrhaftigen‹ Dokumentation sehen, erachtet Cogitore als fiktiv und agiert ungeachtet solcher Kategorien. Der Fotografie und dem bewegten Bild wohnt das Potenzial inne, Wirklichkeit zu hinterfragen, die vermeintliche Unveränderlichkeit aktueller Lebensrealität zu dekonstruieren und alternative Wirklichkeiten zu schaffen, die das Hier und Jetzt als eine von multiplen Versionen erkennbar werden lassen. Gegenwart und insbesondere die Zukunft werden als gestaltbar, als wandelbar interpretiert. Ein analytischer Blick auf bestehende, etablierte Ordnungen und deren künstlerische wie reale Transformation liegt dem Projekt Les Indes galantes zugrunde. Cogitore arbeitet bei seinen Projekten eng mit Personengruppen zusammen, die repräsentativ Phänomene erkennbar werden lassen, welche gesamtgesellschaftliche Fragen aufwerfen. Die Wirklichkeit des Einzelnen trifft auf Dynamiken einer Gruppe, beide lassen sich in ihrer Bedeutung ausdehnen. Diese Prozesse entwerfen ein Sinnbild für globale und grundlegende Fragen nach den Dynamiken menschlichen Zusammenlebens und »ein Miniaturbild gesamtgesellschaftlicher Phänomene.«[3] (Clément Cogitore, 2017)
»Aus meiner Sicht handelt Les Indes galantes von jungen Menschen, die auf einem Vulkan tanzen. […] Sicherlich ist diese Explosion bis zu einem gewissem Grad politisch.«[4] (Clément Cogitore, 2017)
Les Indes galantes ist eine zeitgenössische Inszenierung des barocken Opernballetts des französischen Komponisten Jean-Philippe Rameau aus dem Jahr 1735. Rameau ließ sich von indigenen Stammestänzen, die von Metchigaema-Häuptlingen in Paris im Jahre 1723 aufgeführt wurden, inspirieren und bezog deren Rhythmen und Bewegungen in seine Komposition mit ein. Das Genre der Ballettoper geht auf den Komponisten André Campra zurück, dessen ›L’Europe galante‹ [Das galante Europe], uraufgeführt 1697, Liebesgeschichten aus Frankreich, Italien, Spanien und der Türkei inszeniert. Jenem europäischen Schwerpunkt setzte Rameau einen barocken Blick auf Formen galanter Liebe in Peru, Persien und des indigenen Nordamerikas entgegen. Er schuf eine exotisierende Inszenierung mit opulenten Gewändern, die den französischen Besucher seiner Zeit mit Imaginationen der Ferne in Staunen versetzte. Jene Fantasien ›exotischer Fremdheit‹ sind in Cogitores Videoarbeit, die aus einer Inszenierung an der Pariser Opéra Bastille hervorging, verschwunden.
Die Tänzerinnen und Tänzer, die das Opernballett interpretieren, sind junge Pariser, sowie aus Belgien und Deutschland. Körper und Tanz artikulieren individuelle Erzählungen, deren Narrative kollektive Bedeutung erreichen. Die Bewegungen sind expressiv und von starker psychologischer Ausdruckskraft, der Tanz K.R.U.M.P. trennt nicht zwischen Innerem, persönlicher Erfahrung, individuellem Befinden und äußerem Ausdruck, Mimik, Körpersprache. Vielmehr dringt innere Emotion in Form von Freestyle-Körperbewegung nach außen, ›Stomps‹ [Aufstampfen], ›Chestpops‹ [blitzartiges Hochschnellen der Brust], und ›Armswings‹ [Schwingen der Arme] formulieren Geschichten, die als ›Taunts‹ [Verspottung] bezeichnet werden. Ziel ist nicht eine für Betrachtende komponierte Choreografie, sondern ein Bewegungszustand, der Innen und Außen kohärent werden lässt, positive wie negative Emotionen sichtbar macht, sie nach außen dringen lässt. Jener Zustand, der Innen und Außen, Psyche, Gedanken und Emotionen mit Mimik, Bewegung und Körper eins werden lässt, wird als ›amped‹ [verstärkt] oder ›buck‹ [sich entziehen] bezeichnet und ermöglicht eine gewaltfreie physische Ausdrucksweise von Enttäuschung, Frustration, Schmerz und Aggression.
K.R.U.M.P. (Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise) rekurriert auf die Los Angeles Riots, einen mehrtägigen Gewaltausbruch als Reaktion auf den am 29. April 1992 erfolgten Freispruch der Polizisten, die den afroamerikanischen Taxifahrer Rodney King bei einer Festnahme schwer misshandelt hatten. South Central Los Angeles war zentraler Austragungsort der Unruhen als Reaktion auf die rassistische Polizeigewalt und eben dort entstand aus der Konfrontation mit Rassismus in gewaltvoller und systematischer Dimension als gewaltlose Form des Widerstands K.R.U.M.P. Der Tanz verbreitete sich über die USA bis nach Europa und ist heute eine Ausdrucksform von Widerstand und Kritik gegen Diskriminierung und rassistisch motivierte Gewalt. Im Februar 2017 entwickelten sich gewaltsamen Proteste, die sich bis in die Pariser Innenstadt ausdehnten, ausgehend von den schweren Misshandlungen während der Festnahme eines jungen schwarzen Parisers im Vorort Aulnay-sous-Bois. Die Polizeigewalt gegen schwarze Bürger gestaltet sich als globale Thematik und findet in der Verbreitung von K.R.U.M.P. ihren gewaltfreien Widerstand.
»Der Mythos der Unterschicht ist ein kulturelles und politisches Konstrukt, das seinen eindeutigen historischen Ursprung und Entwicklungsprozess im öffentlichen Diskurs hat. Es nahm seine distinkte Form während der ›urbanen Krise‹ in den späten 1960er-Jahren an, die von Unruhen, Unordnung und dem Verfall eines afroamerikanischen Zentrums geprägt war. […] Es ist untrennbar verbunden mit ideologischen Fragen wie Rasse und Repräsentation«[5], so formuliert Liam Kennedy die Entstehung der postindustriellen Ghettos der USA in Zusammenhang mit rassistischen Narrativen. Jene urbanen Manifestationen, wie sie seit den späten 1960er-Jahren in den USA als ›urban crisis‹ [Urbane Krise] zum Ausdruck kamen, basieren auf systematischen Mechanismen der Ausgrenzung – ähnliche Strukturen finden sich auch im Umfeld von Paris, den Banlieues. Die psychologischen Dimensionen, individuellen Erfahrungsweisen und kollektiven Dynamiken, welche die Wirklichkeit von Repression und Diskriminierung durch rassistische Strukturen zeitgenössischer Gesellschaften konstituieren, bilden einen zeitgenössischen gesellschaftskritischen Kontext, in welchem Les Indes galantes lesbar ist.
Les Indes galantes thematisiert eurozentrische Historie sowie deren Mechanismen kultureller Appropriation und verhandelt dabei Fragen nach neuen Konzepten nationaler Identität, nach zeitgenössischen Narrativen für eine multikulturelle französische Gesellschaft. Diese gestaltet sich als über Jahrhunderte gewachsenes Konglomerat multipler kultureller Einflüsse und ist dabei noch immer von Hierarchien rassistischer Strukturen durchsetzt, die diametrale Lebenswirklichkeiten innerhalb einer Stadt generieren. Indem der elitär konnotierte Ort der Opéra Bastille erstmals K.R.U.M.P. Tänzern zur Verfügung steht, denen jener privilegierte Raum zumeist verschlossen blieb, vollzieht Les Indes galantes eine symbolische Übernahme. Die Tänzerinnen und Tänzer, die ihre eigene individuelle und gleichermaßen kollektive Interpretation jenes barocken Opernballetts entwickeln, treten nicht nur ins Bild des Smartphones, sondern zudem in die Sichtbarkeit der Bühne und der Videokamera. So schafft Cogitore eine künstlerische Synthese, einen Berührungspunkt paralleler gesellschaftlicher Wirklichkeiten und deren medialen ›Bühnen‹. Les Indes galantes etabliert »künstlerische Praxis als Mitgestalterin, als Akteurin im Konzert der Wirklichkeit«[6], indem sie gesellschaftliche Mechanismen erkennt, in bestehende Ordnungen eingreift und diese nach neuen Prinzipien organisiert, um eine andere Gegenwart und dadurch eine andere Zukunft zu evozieren.
»Dieser Tanz ist eine Chance, denn er macht die uns zugrunde liegende Gewalt deutlich und hilft, diese zu verstehen, indem man sich des Mittels der Sprache entledigt. Der einzige Tanz, der es wert ist.«[7]
Text: Nadine Isabelle Henrich, 2018
[1] Holert, Tom: Regieren im Bildraum, Berlin 2008, S. 16.
[2] Clément Cogitore, Interview über Braguino, 2017, URL: http://www.arte.tv/de/videos/077193-006-A/clement-cogitore/ (Letzter Zugriff am 18.09.2018).
[3] Ebd.
[4] Clément Cogitore, Interview zu Les Indes galantes, 2017, URL: http://www.youtube.com/watch?v=UMv4EyS08_g (Letzter Zugriff am 18.09.2018).
[5] Kennedy, Liam: »Representations of the Underclass: Race, Poverty and the Postindustrial Ghetto«, in: The Ghent Urban Studies Team (Hrsg.): The Urban Condition: Space, Community and Self in the Contemporary Metropolis, Rotterdam 1999, S. 266–299, hier: S. 267.
[6] Lang, Johannes: »Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis«, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hrsg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation – Kritik – Transformation, Bielefeld 2015, S. 7–15, hier: S. 13.
[7] Heddy Maalem, Choreografin des Stückes ›Éloge du puissant royaume‹, zit. nach, diess.: »Je parle KRUMP«, in: Africultures, No. 99–100, Mai 2012, S. 249.